Israel und Gaza: Wir machen uns schuldig

Flagge an der Berliner Mauer (East Side Gallery)
Bild: Wikimedia Commons

Gaza geht uns alle an, und wir alle machen uns schuldig. Ich, jedenfalls, habe mich schuldig gemacht. Ich habe mich schuldig gemacht, indem ich schwieg. Zu unaussprechlich war mir die Grausamkeit des Hamas-Terrors, zu herzzerreißend die humanitäre Katastrophe in Gaza. Wer angesichts dieser Bilder schweigt, macht sich schuldig. Doch auch wer spricht, wer postet oder bekennt, macht sich schuldig. Die menschliche Sprache scheitert, sie verletzt, lädt unweigerlich mit jedem Wort Schuld auf sich im Angesicht unmenschlicher Zerstörung und unauflöslicher Widersprüche. Und doch schweige ich nicht mehr. Nicht, um weniger schuldig zu sein. Nein, um die Schuld zu benennen, immerhin.

Wer eine Seite wählt, macht sich schuldig. Wer keine Seite wählt, macht sich schuldig. Wer bedingungslos auf dem „Selbstverteidigungsrecht Israels“ beharrt, macht sich schuldig. Denn jedes tote Kind ist eines zu viel. Wer an das Existenzrecht Israels ein „aber“ hängt, macht sich schuldig. Denn Israel ist ein Hafen für ein Volk und für eine Religion der Verfolgten. Überhaupt, wer „Israel“ im Kollektivsingular sagt, macht sich schuldig. Wer die Politik seiner rechtsextremen Regierung legitimiert, wer die gesellschaftliche Pluralität Israels negiert, all die Rufe nach einem Ende der Gewalt, nach Verhandlungen, die in Israel laut sind und nicht zuletzt von Angehörigen der verschleppten Geiseln geäußert werden, in deren Namen Krankenhäuser in Schutt und Asche gelegt werden, macht sich schuldig. Wer, wie ich, diese Verkürzung auf einen monolithischen „Judenstaat“ Israel für mindestens proto-antisemitisch hält, macht sich, ganz sicher, ebenfalls schuldig.

Wer „die Hamas“ sagt und damit insgeheim 2 Millionen Palästinenser mit Terroristen gleichsetzt, sie entmenschlicht, um ihr Leiden von sich wegzudrücken, macht sich schuldig. Wer Israelflaggen postet, macht sich schuldig. Wer „free Palestine“ skandiert, macht sich schuldig. Wer passgenau biblische Prophezeiungen erfüllt sieht, macht sich schuldig. Wer mit Kraken posiert, macht sich schuldig.
Wer die Abschiebung Andersdenkender fordert, macht sich schuldig. Wer über all dem ukrainisches Leid vergisst, macht sich schuldig.
Wer unsere eine Welt in „wir“ und „die“, wer sie in Gut und Böse teilt, macht sich schuldig. Wer nicht jeden Menschen als gleich wertvoll betrachtet, macht sich schuldig.

Ich sehe überall Schaum vorm Mund und Rechthaberei und das allzumenschliche Bedürfnis, auf der richtigen Seite zu stehen. Doch wer auf der richtigen Seite stehen will, macht sich schuldig. Und ich lasse die Hoffnung fahren und mache mich der Hoffnungslosigkeit schuldig.

Wohin nun mit all der Schuld?

Schuld braucht Entschuldigung, um die man bitten, die man sich jedoch niemals – ein „Ich entschuldige mich“ gibt es nicht – selbst gewähren kann. Und doch: Wir brauchen diese demütige Bitte um Entschuldigung, jetzt mehr denn je. Denn wir alle sind schuldig geworden. Nur wo die Schuld bekannt wird, kann ent-schuldigt werden und Versöhnung wachsen. Wo sind die Christen des Abendlandes, die das predigen? Werdet lauter! Keine Waffe dieser Welt kann Frieden schaffen, keine noch so unbedingte Solidaritätsbekundung den Terror besiegen, ein für allemal. Wenn die Spirale der Gewalt durchbrochen werden soll – und das muss sie! –, braucht es Hoffnung auf Versöhnung, irgendwie.
Ist es nicht an der Zeit, dass wir, als die nicht unmittelbar Betroffenen, damit beginnen? Dass wir unsere Schuld des Schweigens und des Redens und der Vereinfachung und der Rechthaberei bekennen?

Es gilt also, das Hoffen zu lernen, mit jeder und gegen jede Vernunft. Ich möchte eine solche Stimme des Friedens sein; eine Stimme, die nicht unschuldig bleibt, aber eine, die Hoffnung sät in den Sturm, auf dass er Wind werde. Man muss ins Versöhnen verliebt sein, nicht ins Gewinnen.

Corona. Protokoll des gekränkten Stolzes

In 21 Versen

Quelle: https://www.eqdynamics.de/media/Stolz_fotolia.jpg
  1. Ich bin nicht wichtig.
  2. Ich kann die Welt nicht retten.
  3. Ich kann mein Unternehmen nicht retten.
  4. Ich kann, wenn es nötig wäre, nicht einmal meinen Job retten.
  5. Ich habe Angst.
  6. Ich weiß nichts Relevantes über das Virus.
  7. Was ich nicht Relevantes weiß, interessiert keinen.
  8. Das steht jedenfalls zu hoffen.
  9. Ich sollte häufiger die Klappe halten.
  10. Ich bin nicht wichtig.
  11. Ich kann die Welt nicht retten.
  12. Ich kann vielleicht dich retten.
  13. Indem ich nichts tue.
  14. Ich sollte häufiger nichts tun.
  15. Ich bin nicht wichtig.
  16. Dort, wo ich sein zu müssen glaubte,
  17. Vermisst mich keiner.
  18. Also bleibe ich hier.
  19. Und tue so, als sei das nicht das Mindeste.
  20. Sondern wichtig.
  21. Ich bin wichtig.

Von der Kunst und Notwendigkeit der Kritik oder: Ist das Glas halb voll oder halb leer?

Meine geliebte Freundin Jelena ist ein beneidenswert positiver Mensch. Mit der berüchtigten Frage, ob das Glas nun halb voll oder halb leer sei, hält sie sich für gewöhnlich nicht länger auf. Sie schenkt lieber nach, bevor die Frage überhaupt gestellt werden kann.

Ich hingegen neige dazu – um im Bild zu bleiben – erstmal auszutrinken und danach zu behaupten, „halb leer“ sei eine noch viel zu optimistische Sicht der Dinge.

Wer hat nun Recht?

Quelle: https://karrierebibel.de/glas-halb-voll/
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In eigener Sache

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Iggy Pop im Jahr 2009. Er sieht heute immer noch so aus.
Quelle: flickr, CC BY-SA 2.0. https://www.flickr.com/photos/20418970@N03/3662472073.

Ist es nicht seltsam, wenn Journalisten, etwa in der ARD oder der Süddeutschen Zeitung, von Zeit zu Zeit eine oftmals maximal belanglose Hausmitteilung „in eigener Sache“ verkünden; so als ob Journalismus, der etwas bewegen will, nicht überhaupt nur noch in eigener Sache funktionierte? Wer universell sein will, so hat es bereits vor Jahren der große Iggy Pop auf den Punkt gebracht, der muss maximal persönlich werden. Die Person hinter der Nachricht darf, sie muss sogar in ihrer Subjektivität sichtbar sein und sich nicht hinter der Chimäre von „Objektivität“ verstecken. Die Glaubwürdigkeit einer Nachricht steckt weniger in ihrem Gehalt als in ihrem Überbringer. Zumindest in diesem Sinne ist das Medium inzwischen tatsächlich zur Message geworden.

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Willkommenskultur 02_Frank Mütterlein

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Frank Mütterlein betreibt die “Krämerei” in Meißen. Er war der einzige von den zahlreichen angesprochenen Menschen in der Stadt, der sich spontan Zeit genommen hat, mir seine Geschichte zu erzählen – und der dafür sogar seinen Laden schloss.

Frank Mütterlein vor seiner Krämerei, Oktober 2018, Foto: DM
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Willkommenskultur 01_Frank Richter

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Es war lange, zu lange still hier. Mea culpa!

Dafür gibt es jetzt in kurzer Folge zwei besondere Leckerli: Es handelt sich um die Fragmente eines eigentlich schon beinahe beerdigten Podcast-Projekts aus dem Oktober 2018 unter dem Titel “Willkommenskultur”. Der Plan war, mit einer naiven Mischung aus Neugierde und Empathieüberschuss “dem Volk aufs Maul zu schauen”, wie Martin Luther das einst formulierte. Also: Zeit zu haben für die Geschichte, die Menschen zu erzählen haben. Im Idealfall sollte daraus ein Mosaik entstehen, das Stimmungslagen und politische Konjunkturen verständlich machen sollte.

Frank Richter im Oktober 2018, Foto: DM
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Epistemologie des Handspiels oder: Maschinenlogik und Menschlichkeit im Fußball

Quelle: dfl.de

Fußball ist ein Bewegungsspiel, das von Menschen gespielt wird. Das klingt banal, ist aber für das aktuell heißeste Thema in Fußballdeutschland von ebenso grundlegender wie überraschend wenig diskutierter Bedeutung. Deutlich wird dies, wenn wir zwei der umstrittensten technischen Neuerungen im Fußball des vergangenen Jahrzehnts vergleichen: Die „Torlinientechnik“ und den „Videoassistenten“. Oder im DFL-Sprech: „Video-Assistent“, denn wir sind ja hipp und lehnen uns an den englischsprachigen „video assistant referee“ an, der sogar drei Wörter benötigt. Der Videoraum ist deshalb selbstverständlich englisch betäfelt. Wo englisch ist, da ist der Fortschritt, und der Video-Assistent steht schließlich „Im Zeichen des Fortschritts“. Aber ich schweife ab.

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Geschichtswissenschaft zur Rettung der Welt

„Es ist ja nicht so, dass du mit deinem Projekt die Welt rettest…“ – ein Satz wie eine verzehrende Feuersbrunst. Gesprochen von meiner lieben Freundin, im Geiste maximaler Beiläufigkeit. Hat sie Recht? Klar hat sie Recht! Oder hat sie? Es ist. Ist es nicht? Ich fühle mich schon wie die Briten bei Asterix.

Quelle: Goscinny/Uderzo: Asterix bei den Briten, Berlin [Ehapa] 1971.



Geschichtswissenschaft zur Rettung der Welt. Ein schräger, ein abwegiger Gedanke. Historiker! Sind das nicht diese – vorwiegend älteren – Herren in abgewetzten Tweed-Sakkos, die misstrauisch über ihre zu kleinen Brillen lugen und ansonsten ganz zufrieden sind, wenn sie mit ihren alten Akten alleine gelassen werden? Wenn diese Historiker die Welt jenseits der Akten nicht brauchen, braucht diese Welt dann die Historiker? Oder präziser: Wozu braucht die Welt sie – wenn wir voraussetzen, dass die Welt ausnahmsweise keine Lust auf Hitlergeschichten oder irgendwas mit Rittern hat?

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Gegenwart I

Die erfahrene Beraterin Monika Bylitza hat mir kürzlich nahegelegt, Blogbeiträge immer mit einem aussagekräftigen Bild zu verknüpfen. Sie hat sicherlich Recht. Reichweite, Marketing, PR und so. Hier bin ich also – hallo Welt –, möchte erklären, warum und wozu. Der Name ist Programm. Wir werden sicherlich noch Gelegenheit haben, auch über Gefährlichkeit und über Schönheit nachzudenken. Aber erstmal Untertitel: Ein Historiker schreibt Gegenwart. Und es gibt kein Bild.

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