Gaza geht uns alle an, und wir alle machen uns schuldig. Ich, jedenfalls, habe mich schuldig gemacht. Ich habe mich schuldig gemacht, indem ich schwieg. Zu unaussprechlich war mir die Grausamkeit des Hamas-Terrors, zu herzzerreißend die humanitäre Katastrophe in Gaza. Wer angesichts dieser Bilder schweigt, macht sich schuldig. Doch auch wer spricht, wer postet oder bekennt, macht sich schuldig. Die menschliche Sprache scheitert, sie verletzt, lädt unweigerlich mit jedem Wort Schuld auf sich im Angesicht unmenschlicher Zerstörung und unauflöslicher Widersprüche. Und doch schweige ich nicht mehr. Nicht, um weniger schuldig zu sein. Nein, um die Schuld zu benennen, immerhin.
Wer eine Seite wählt, macht sich schuldig. Wer keine Seite wählt, macht sich schuldig. Wer bedingungslos auf dem „Selbstverteidigungsrecht Israels“ beharrt, macht sich schuldig. Denn jedes tote Kind ist eines zu viel. Wer an das Existenzrecht Israels ein „aber“ hängt, macht sich schuldig. Denn Israel ist ein Hafen für ein Volk und für eine Religion der Verfolgten. Überhaupt, wer „Israel“ im Kollektivsingular sagt, macht sich schuldig. Wer die Politik seiner rechtsextremen Regierung legitimiert, wer die gesellschaftliche Pluralität Israels negiert, all die Rufe nach einem Ende der Gewalt, nach Verhandlungen, die in Israel laut sind und nicht zuletzt von Angehörigen der verschleppten Geiseln geäußert werden, in deren Namen Krankenhäuser in Schutt und Asche gelegt werden, macht sich schuldig. Wer, wie ich, diese Verkürzung auf einen monolithischen „Judenstaat“ Israel für mindestens proto-antisemitisch hält, macht sich, ganz sicher, ebenfalls schuldig.
Wer „die Hamas“ sagt und damit insgeheim 2 Millionen Palästinenser mit Terroristen gleichsetzt, sie entmenschlicht, um ihr Leiden von sich wegzudrücken, macht sich schuldig. Wer Israelflaggen postet, macht sich schuldig. Wer „free Palestine“ skandiert, macht sich schuldig. Wer passgenau biblische Prophezeiungen erfüllt sieht, macht sich schuldig. Wer mit Kraken posiert, macht sich schuldig.
Wer die Abschiebung Andersdenkender fordert, macht sich schuldig. Wer über all dem ukrainisches Leid vergisst, macht sich schuldig.
Wer unsere eine Welt in „wir“ und „die“, wer sie in Gut und Böse teilt, macht sich schuldig. Wer nicht jeden Menschen als gleich wertvoll betrachtet, macht sich schuldig.
Ich sehe überall Schaum vorm Mund und Rechthaberei und das allzumenschliche Bedürfnis, auf der richtigen Seite zu stehen. Doch wer auf der richtigen Seite stehen will, macht sich schuldig. Und ich lasse die Hoffnung fahren und mache mich der Hoffnungslosigkeit schuldig.
Wohin nun mit all der Schuld?
Schuld braucht Entschuldigung, um die man bitten, die man sich jedoch niemals – ein „Ich entschuldige mich“ gibt es nicht – selbst gewähren kann. Und doch: Wir brauchen diese demütige Bitte um Entschuldigung, jetzt mehr denn je. Denn wir alle sind schuldig geworden. Nur wo die Schuld bekannt wird, kann ent-schuldigt werden und Versöhnung wachsen. Wo sind die Christen des Abendlandes, die das predigen? Werdet lauter! Keine Waffe dieser Welt kann Frieden schaffen, keine noch so unbedingte Solidaritätsbekundung den Terror besiegen, ein für allemal. Wenn die Spirale der Gewalt durchbrochen werden soll – und das muss sie! –, braucht es Hoffnung auf Versöhnung, irgendwie.
Ist es nicht an der Zeit, dass wir, als die nicht unmittelbar Betroffenen, damit beginnen? Dass wir unsere Schuld des Schweigens und des Redens und der Vereinfachung und der Rechthaberei bekennen?
Es gilt also, das Hoffen zu lernen, mit jeder und gegen jede Vernunft. Ich möchte eine solche Stimme des Friedens sein; eine Stimme, die nicht unschuldig bleibt, aber eine, die Hoffnung sät in den Sturm, auf dass er Wind werde. Man muss ins Versöhnen verliebt sein, nicht ins Gewinnen.