Meine geliebte Freundin Jelena ist ein beneidenswert positiver Mensch. Mit der berüchtigten Frage, ob das Glas nun halb voll oder halb leer sei, hält sie sich für gewöhnlich nicht länger auf. Sie schenkt lieber nach, bevor die Frage überhaupt gestellt werden kann.
Ich hingegen neige dazu – um im Bild zu bleiben – erstmal auszutrinken und danach zu behaupten, „halb leer“ sei eine noch viel zu optimistische Sicht der Dinge.
Wer hat nun Recht?
Es versteht sich auf dieser Basis von selbst, dass es in unserer Beziehung Gesprächsbedarf gibt. So auch heute. Ich hatte Jelena voller Begeisterung auf Wolfgang M. Schmidts Filmanalyse von Til Schweigers neuem Schinken aufmerksam gemacht. Ein Lehrstück intelligenter, subversiver Kritik: Präzise beobachtet, auf den Punkt formuliert und mit hintergründigem Witz abgeschmeckt. Die Analyse, nicht der Film.
Jelena war mäßig begeistert, sogar ein wenig angegriffen, da sie vermutete (nicht ganz zu Unrecht, wie ich hier öffentlich eingestehe), dass ich nicht nur meine Begeisterung für ein Video mit ihr teilen, sondern zugleich Kritik an ihrer zu unkritischen Haltung üben wollte. Da war er also wieder: Der Streit ums Wasserglas.
Diesmal in Gestalt von: Wozu Kritik? Oder: Ist es nicht auch mal okay, stumpfe Schnulzfilme einfach nur zu genießen?* Muss man denn immer alles kritisch betrachten?
Meine kurze Antwort auf alle Fragen wäre: Ja!
Wobei die erste ja gar keine Entscheidungsfrage war, haste gemerkt, ne? Dafür die drängendste. Um zu erklären, wozu Kritik (auch) heute (noch) gut und vielleicht nötiger denn je ist, gilt es zunächst mit einem beliebten Vor-Urteil aufzuräumen: Kritik ist immer so furchtbar negativ! Nach dem Motto: „Kritisiert mir den nicht zu viel, das is’n guter Mann!“. Alltagssprachlich muss man „mit Kritik umgehen können“. Sie gilt als Angriff, als abwertender Urteilsspruch, der im Zweifelsfall kaum von überheblicher Rechtaberei oder nervtötendem Dauergemecker unterschieden werden kann.
Dabei ist Kritik eine Kunst (ja, wirklich!). Und wie jede Kunst bedarf auch die Kritik einiger Übung, damit sie nicht klingt wie familiäre Blockflötenkonzerte. Bekritteln kann jeder, Kritik üben offensichtlich nicht.
Unsere „Kritik“ ist etymologisch eng verwandt mit der „Krise“. Und die Krise (altgriechisch: krisis), meinte ursprünglich eine Situation der Entscheidung, die nicht notwendigerweise negativ konnotiert war, sondern vielmehr einer Weggabelung oder einem tipping point glich. Wir erkennen Spuren der Verschmelzung von „Kritik“ und „Krise“ heute in einer „kritischen Situation“, die zu einer Entscheidung oder Handlung zwingt. Bei einem Herzinfarkt (um ein wahlloses Beispiel zu nehmen), sollte es besser schnell gehen. Das Adjektiv zu „krisis“ bildete im Griechischen „kritikos“ (in der Lage sein zu unterscheiden, zu erkennen, wahrzunehmen). Man könnte sagen: Jede Krise benötigt zu ihrer Lösung Wahrnehmung und Entscheidung. Jede Krise benötigt Kritik.
Denn genau das meint Kritik: Sie ist die kritike techne (von krínein: [unter-]scheiden, trennen), die Kunst der Unterscheidung – und damit „eine Grundfunktion der denkenden Vernunft“.
Ich schreibe diese Zeilen mit bebendem Herzen. Großbritannien hat gerade die Europäische Union verlassen. Und ich habe ein Interview mit Nils Melzer, UN-Sonderberichterstatter über Folter, über den Fall Julian Assange gelesen, das mir die Welt einmal mehr nicht nur in ihrer Kritik-Würdigkeit, sondern in all ihrer Kritik-Bedürftigkeit vorgeführt hat. Das Interview ist sicherlich keine leichte Lektüre. Trotzdem empfehle ich sie jedem, dessen Herz noch schlägt. Mehr denn je, so meine tiefe Überzeugung, braucht die Welt Arbeit an dem, was ist. Die Welt braucht Kritik.
Wer also hat in der Krise des Wasserglases Recht? Vor der Entscheidung, ob das Glas halb voll oder halb leer ist, steht immer zuerst eineWahrnehmung: dass es halb ist.
*fürs Protokoll sei vermerkt, dass auch Jelena den Schweiger-Trailer ziemlich abstoßend fand.
PS:
Eine kleine Zugabe für alle christlichen Zuleser*innen: Ist es nicht traurig, dass die Bibel vor Kritik nur so strotzt, diese in unseren Kirchen aber oft verpönt ist? Mein Lieblingsbeispiel ist der bekannte, nicht zuletzt im großen Garten Evangelikalien beliebte, Vers aus Hebräer 4,12:
„Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.“
Der „Richter“ aus der Lutherbibel (2017) ist allerdings im griechischen Urtext ein Kritiker (κριτικός, kritikos). Das Wort Gottes selbst ist ein Kritiker, und zwar ein lebendiger, ein kräftiger, ein rasiermesserscharfer. Halleluja!
PPS:
Wenn du in deiner neu entflammten Liebe zur Kritik meine kritische Arbeit unterstützen möchtest, freue ich mich sehr. Infos dazu hier: https://fundmybrain.danielmonninger.de
Weiterführende Literatur:
Artikel „crisis, critic, critical, criticism, criticize, critique; criticaster; criterion“, in: Partridge, Eric: Origins. A Short Etymological Dictionary of Modern English, Abingdon 2006 [1966].