Welche Zeit hat eine Zahl?

Oder: Unfertige Gedanken zu Game of Thrones und Konrad Zuse*

Game of Thrones Staffel 8 Staffelposter
Bild: HBO

[*Disclaimer: Ich habe den folgenden Text ursprünglich im Frühjahr 2019 verfasst und nie veröffentlicht. Was ich, als ich ihn nun wiederentdeckte, so unverständlich fand (stand Perfektionismus im Weg?), dass ich ihn nun poste. Die aufgeworfenen Fragen und Probleme scheinen mir im Jahr 2025 mit seiner GPT-sierung der Welt eher noch spannender und dringlicher zu sein, ungeachtet der Tatsache, dass die Beispiele natürlich gealtert sind. Freue mich über Kommentare!]

I.

Bei HBO, vielumjubelter US-amerikanischer Pay-TV-Sender und Macher der Popcorn-TV-Serie des vergangenen Jahrzehnts, Game of Thrones, herrscht Krieg. Als Teil von Time Warner wurde HBO vor kurzem vom Telekommunikationsgiganten AT&T übernommen, der offensichtlich vorhat, in Sachen Ausrichtung und vor allem Output einen Konkurrenten zum übermächtigen Gegenspieler Netflix aufzubauen. Was angesichts des Erfolgs von Game of Thrones nicht allzu weit hergeholt scheint, hat bei HBO zu einigem Widerstand geführt, sah man sich dort doch in erster Linie als Nischenanbieter ebenso hochwertiger wie nicht notwendigerweise einem breiten Massengeschmack entsprechender Produktionen, wie sie etwa die Zöglinge des Autors David Simon repräsentierten (z.B. The Wire, The Deuce oder Treme – die beste Serie aller Zeiten!).

Auch der Publikumserfolg von Game of Thrones entsprang offensichtlich einem Betriebsklima, das kreativer Freiheit grundsätzlich den Vorzug vor Datenerhebungen aus Nutzerbefragungen oder Marktbeobachtung gab, wie ein nicht namentlich genannter hochrangiger Mitarbeiter des inzwischen aus Protest gegen den AT&T-Kurs zurückgetretenen HBO-Chefs Richard Plepler gegenüber der Financial Times zu Protokoll gab:

“[Is] the idea that you can data test this stuff and predict that people will like shows with dragons? Ten years ago, people did not like shows with dragons.” Sein nächster Satz führte zu diesem Blogeintrag: “If you’re going to create the culture then you can’t rely on data, which is historic. You’re only going to end up making things that already exist.”

Für den HBO-Mitarbeiter scheint selbstverständlich festzustehen, dass Daten, der kapitalistische Fetisch unserer Zeit, per se historisch seien und das heißt, aus seiner Sicht, lediglich historisch, nur von Vergangenheitswert und für seine gegenwärtige Arbeit und damit die Zukunft seines Senders von überschaubarem Nutzen.

Dies erschien mir nicht nur deshalb bemerkenswert, weil die grundlegende Existenzberechtigung dieser Form der Datenerhebung in Marktforschung, consumer clinics und allgemein der statistischen Meinungsforschung insgesamt darauf beruht, legitime Aussagen über die Gegenwart zu treffen und, zumindest in ihren kommerziellen Ausprägungen, Handlungsempfehlungen für die Zukunft geben zu können.

In einer Welt, in der die alten, orientierungsstiftenden Erzählungen der Moderne, Religion, Ethik, Geschichtsphilosophie, ihre stabilisierende Kraft weitgehend verloren haben, werden Daten zum Rettungsanker. Das Datum ist die Orientierungseinheit der Spätmoderne. Oder der Post-Moderne oder wie auch immer man die eigentümlichen Wandlungsbewegungen der Moderne bezeichnet, in denen wir stecken. Ohne Daten keine Orientierung. Ohne Orientierung keine Aktion. Da unser aller (Arbeits-)Leben jedoch unbestritten voll von und umgeben von noch mehr Aktion ist – ist dies vielleicht der tiefere Sinn der Sammelleidenschaft, die unsere persönlichen Daten erfasst hat. Oder noch einen Schritt vorher angesetzt: die unsere Persönlichkeit überhaupt in Daten definiert. No action without data.

Wenn nun der HBO-Mensch Recht hat, und diese Daten ausschließlich rückblickend von Interesse sind und gerade nicht zur Orientierung zukünftiger Handlungen dienen können – was sagt das dann über unsere Welt aus? Was über die Art und Weise, in der wir Entscheidungen treffen, persönliche, wirtschaftliche, politische?

Nun sind Klimakatastrophe oder Brexit keine TV-Serien. Game of Thrones ist vielleicht ohne statistische Daten entstanden. Dass sich das Klima radikal verändert, lässt sich jedoch nur über Zeitreihen, also (historische) Daten, feststellen. Ein heißer Sommer macht noch keinen Klimawandel. Anders ist das, wenn 10 der letzten 12 Sommer die heißesten seit Beginn der Aufzeichnungen waren. Da hilft es auch nicht, die Sonne zu verklagen.

Andererseits: Selbst wenn ich alle verfügbaren Daten über den bisherigen Brexit-Prozess akkumulieren könnte, wüsste ich dann, was morgen, in einer Woche, in einem halben Jahr mit der EU-Mitgliedschaft Großbritanniens passieren wird? Und selbst wenn ich das wüsste, wüsste ich dann, was zu tun ist? Siehe wieder: Klima.

In einem vorigen Beitrag habe ich festgestellt, dass eine unserer Grunderfahrungen, eine der Grundbedingungen des Menschseins, die verrinnende Zeit ist. Das bedeutet auch: Zeit produziert Neuheit am laufenden Band. Und Neuheit, darauf verweisen die Aussagen des HBO-Verantwortlichen, lässt sich nicht aus Gewesenem, lässt sich nicht aus historischen Daten extrapolieren.

3…

2…

1…

Genau jetzt wird etwas nie Dagewesenes passieren. Und jetzt. Und jetzt. Und wer hätte es geahnt?

II.

Die HBO-Zitate haben mich allerdings auch deshalb neugierig gemacht, weil ich bei einer Recherche für unser Marburger Oberseminar zum Thema Raum/Räumlichkeit/spatial turn vor ein paar Tagen über einen Text von Konrad Zuse gestolpert bin.

Konrad Zuse. Bild: Ullstein Bild via interestingengineering.com

Konrad Zuse gilt als Erfinder des modernen Computers. Das sollte als pompöse Einführung genügen. Ansonsten hilft wie immer Dr. Google. Dieser Konrad Zuse nun hat im Jahr 1967 – als er bereits ein großer Fisch in seinem automatentheoretischen Teich war – einen Text unter dem Titel „Rechnender Raum“ veröffentlicht, der in seinem Bereich als Meilenstein gilt, da er nichts weniger versucht, als informations- und automatentheoretisches Denken auf physikalische Probleme zu übertragen. Man könnte auch vereinfacht sagen: Indem er die Welt als Computer denkt, eben als rechnenden Raum. Damit einher geht das Weiterdenken einiger erkenntnistheoretischer Probleme, also der Frage, in welchem Zusammenhang unsere (wissenschaftlichen) Beschreibungen der Welt mit den von ihnen bezeichneten Dingen (also frei nach Kant: der Welt an sich) stehen.

Ich habe sicherlich nicht alles verstanden, was Zuse da denkt und schreibt. Für unseren Zusammenhang ist allerdings relevant, dass Zuse das Problem der Zeitlichkeit weiterdenkt, wie es um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert mit der Ablösung der Weltbetrachtung der klassischen Mechanik (Isaac Newton u.a.), zunächst durch statistische Mechanik/Thermodynamik (Ludwig Boltzmann u.a.) und dann vor allem durch die ebenso berühmten wie unverstandenen Revolutionen der Quantenphysik (Max Planck u.a.) und den beiden Relativitätstheorien (Albert Einstein) in der Physik aufgeworfen worden war.

Sehr verkürzt – für den unwahrscheinlichen Fall, dass Physiker*innen zulesen bitte ich um Entschuldigung und ggf. Aufklärung – könnte man das in folgendes Schema pressen:

In der klassischen Mechanik hat Zeit keine festgelegte Richtung. Alle Prozesse sind komplett reversibel. Die Zeit wirkt in beide Richtungen kausal. Das ist die Physik, die man in der Schule lernt oder auch, wie in meinem Fall: nicht. Wenn ich mit meinem Fuß gegen einen Ball trete, wird dieser Bewegung aufnehmen, da Kraft wirkt, der Ball entsprechend verformt wird und aufgrund der Gegenkraft in seine Ursprungsform zurück – und damit von meinem Fuß weg – springen möchte. Wenn ich dagegen mit derselben Kraft gegen einen Betonblock trete, wird die Gegenkraft etwas mit meinem Fuß veranstalten. Das sagt ungefähr, mit einem holprigen Beispiel, das dritte Newton’sche Axiom von Actio und Reactio. Kraft gleich Gegenkraft.

Es ist jetzt weder Zeit noch Ort, um in die (Un-)Tiefen von Quantenphysik und Relativitätstheorie zu steigen – mal abgesehen davon, dass ich unzureichend qualifiziert dafür wäre. Faszinierend ist jedoch, dass die eindeutige Kausalität zeitlicher Abläufe (wenn A, dann B und wenn B, dann A) aufgelöst wurde zugunsten einer statistischen Betrachtungsweise, die die eindeutigen, notwendigen Kausalbeziehungen der klassischen Mechanik zu statistischen Kausalitäten, also Wahrscheinlichkeiten, degradierten.

Das hat einige schwer zu begreifende Konsequenzen, die ich kaum erklären könnte, für uns ist nur wichtig: Bei Newton und in unserer Alltagserfahrung gilt, dass für physikalische Prozesse (also fast alles) auf A notwendigerweise B folgt, dass getretene Dinge entweder durch die Gegend fliegen oder mein Fuß schmerzt – und dass vor allem umgekehrt gilt, dass jemand (oder etwas) getreten oder sonstwie angetrieben haben muss, wenn Dinge durch die Gegend fliegen. Dass man also aus A eindeutig B berechnen kann (vorwärts) und genauso rückwärts von B aus auf den Ausgangszustand A schließen kann.

Dieser direkte Zusammenhang ist mit der Quantenphysik prinzipiell aufgehoben. Er kann nur noch näherungsweise, eben statistisch, berechnet werden.

Damit zurück zu Computerpionier Konrad Zuse: Mit seinem „rechnenden Raum“ und dem zugehörigen digitalen Denken in ganzen Zahlen und diskreten Zuständen ist eine neuerliche Verschiebung der Kausalität, also des Verhältnisses von A und B, von vorher und nachher verbunden:

„Die statistische Quantenmechanik führt den Begriff der Wahrscheinlichkeit ein und sieht in der Zunahme der Entropie ein Abweichen von der zeitlichen Symmetrie. Finite Automaten [z.B. Computer, D.M.] folgen im allgemeinen nur den in positiver Zeitrichtung determinierten Gesetzen. Der Algorithmus setzt nur fest, welcher folgende Zustand sich aus dem gegebenen ergibt, nicht umgekehrt.“[1]

Der Algorithmus, das lese ich als geisteswissenschaftlicher Laie daraus, arbeitet ausschließlich vorwärts in der Zeit. Er kann, qua Algorithmus, gar nicht rückwärts arbeiten. Der Algorithmus kann, eben weil er ein Algorithmus ist, nur nach vorne. Was vor einer Sekunde war, ist für ihn schon verloren. Er kann aus dem „folgenden Zustand“ nicht dahin zurück, wo er herkam. Heißt das, dass Algorithmen kontinuierlich Zustände, Dinge produzieren, über die sie sich per se keine Rechenschaft ablegen können, da prinzipiell unentscheidbar bleibt, worauf sie basieren und wie sie zustande kamen?

Dies scheinen mir brennend heiße Fragen, wenn man bedenkt, dass Algorithmen der feuchte Traum von Google, Facebook und Netflix sind (womit wir wieder beim Anfang wären) sowie zunehmend auch politische Auseinandersetzungen bestimmen. Siehe Brexit. [Und: Algorithmen sind die wesentlichen Bausteine von Künstlicher Intelligenz, sage ich im Jahr 2025 dazu.]

Daraus ergibt sich nun die spannende Frage für heute: Welche Zeit hat eine Zahl? Oder konkreter: wo liegen die blinden Zeit-Flecken in einer zahlendominierten Welt?

Ist es das Problem HBO? Ein Problem der Daten und damit das Problem, dass Daten per se historisch sind und nicht mit Neuheit in der Zeit umgehen können?

Oder ist es das Problem Zuse? Das Problem des geschichtsvergessenen Algorithmus, der eben gerade nicht rückwärts extrapolieren kann und der damit, sozusagen, nicht weiß, wo er herkommt?

Vielleicht ist die „Geschichtswissenschaft zur Rettung der Welt“ sogar noch dringlicher, als ich ursprünglich [damals] dachte.


[1] Zuse, Konrad: Rechnender Raum, Elektronische Datenverarbeitung Bd. 8 (1967), S. 335-344, hier S. 343.